Crasselt & Raehse, Löbau
Pianofortefabrik in Löbau in Sachsen, 1881 – 1934
Eine Pianoforte-Fabrik im Schatten einer weltberühmten Firma: 22 Jahre nach der Gründung von „August Förster“ (1859), im Jahre 1881, genau am 8. März, gründete Louis Crasselt „mit sehr bescheidenen Mitteln zusammen mit seinem Sozius Herrn Ferdinand Rähse die Pianofortefabrik von Crasselt & Rähse“.
Wer war Louis Crasselt?
Am 20. März 1844 wurde er „in Potschappel bei Dresden geboren, wo sein Vater als Kantor amtierte. Ursprünglich zum Tischlerhandwerk bestimmt, machte er seine Lehrzeit bei einem Tischlermeister seines Heimatsortes durch. Nach Beendigung derselben aber wandte er sich dem Klavierbau zu, für den er große Lust und Neigung zeigte. Crasselt arbeitete in vielen bedeutenden Pianofortefabriken des In- und Auslandes und vervollkommnete dadurch seine Kenntnisse als Klavierbauer. So war er auch in Rußland mehrere Jahre lang praktisch tätig.“
Unter seiner kaufmännischen Leitung gelangte die Firma schnell zu großer Bedeutung. 1891 erwarb er ein eigenes Grundstück und ließ „eine Fabrik mit bedeutend vergrößertem Betriebe“ erbauen. In dieser Zeit entstand „auch die erste Saitenorgel, eine Erfindung des […] Ingenieurs C. Gümbel, die seinerzeit ob ihrer wunderbaren Klangwirkung und Tragfähigkeit des Tones großes Aufsehen erregte, aber wegen der Schwierigkeit der Stimmhaltung von Zunge und Saite (der geringste Temperaturwechsel führte eine Störung zwischen diesem verschiedenen Klangmaterial herbei) von der Industrie wieder aufgegeben wurde“.
Louis Crasselt schied aus gesundheitlichen Gründen 1905 aus der Firma aus, er starb am 26. Januar 1912.
Kurz nach der Gründung beschäftigte sich die Firma mit einer besonderen Art der Stimmhaltung: Hergestellt wurden Pianinos, später Flügel, mit „vollendetster Eisenconstruktion und aufrechtstehender Stimmschraube. Eigene Erfindung! System Raehse. D. R.-P. No. 36654. Hervorragend gediegene Arbeit und von namhaften Autoritäten als das Vorzüglichste auf dem Gebiete des Pianoforte-Baues bezeichnet.
- Vorzüge unserer Construction sind:
- Absolut sicheres, ungemein erleichterndes Reinstimmen des Instrumentes.
- Ausgezeichnete Stimmhaltung, selbst bei schroffsten Temperaturwechsel und passend für das ungünstigste Clima, da der Metallrahmen, auf welchem der ganze Saitenbezug mit der Stimmschraube ruht, aus einem Stück hergestellt ist.
- Durch Imprägnierung der sämmtlichen Metalltheile ist ein Rosten derselben von vornherein ausgeschlossen.
- Mängel, wie solche bei alter Construction auftreten, als Losleimen des Stimmstockes, Lockerwerden der Wirbel u. dgl. m., sind hier absolut unmöglich.
- Grosse Billigkeit unserer Construction und weitgehendste reelle Garantie, da Reparaturen geradezu undenkbar sein.
Die Patente für England, Frankreich und Belgien sind noch zu verkaufen.“
Grafische Darstellung des Patentes 36654, „ausgegeben am 23. August 1886“:
Die Köpfe der Schrauben sind mit durchgehenden Löchern versehen, so dass man dieselben mittels eines eingesteckten Stiftes drehen kann.
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Es existieren nur sehr wenige Instrumente mit diesem Patent.
Im Dezember 1887 ist von einer wesentlichen praktischen Verbesserung der neuen Stimmvorrichtung zu lesen:
„Der Erfinder ist nämlich von seiner bisherigen Idee: den aufrecht stehenden Schrauben mit runden und mit Löchern versehenen Köpfen, abgewichen und hat nunmehr Schrauben mit eckigen Köpfen gewählt, die ganz in gewöhnlicher Weise mit dem Schlüssel gedreht werden und selbst dem blinden Stimmer die Ausübung seines Berufes in weit bequemer Weise als bei der früheren Construction ermöglichen.
Unsere Stimmvorrichtung vertheuert das Instrument in keiner Weise, denn der Herstellungspreis der Stimmschrauben übersteigt den der gewöhnlichen Stimmwirbel nur um weniges, dagegen kommen der Holzstimmstock und Capotaster ganz in Wegfall, und hierin liegt der Schwerpunkt.
Löbau in Sachsen, den 21. Novbr. 1887. Crasselt & Raehse.“
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Detallierte Info zu der „Stimmvorrichtung“ siehe weiter unten im Beitrag von Klavierbaumeister Olaf Mehlich
Die oben erwähnte Saitenorgel wurde erstmals am 28. Oktober 1890 im Saale des „Goldnen Schiff“ in Löbau von Prof. C. Gümbel vorgeführt,“ vor einem zwar nicht zahlreichen, aber ausgewählten Publikum […], welches den zu mächtiger Entfaltung kommenden Tönen mit Staunen lauschte“ vorgeführt. „Herr Gümbel geht zunächst mit dem Instrument nach Dresden und von da über Leipzig nach Berlin …“
Schon Mitte des Jahres 1893 wurde die erste Saiten-Orgel „nach den Tropen zum Versand gebracht“ und das 1.000. Instrument fertiggestellt. Das war natürlich „eine prachtvoll hohe Saiten-Orgel. […] Bedenkt man jedoch, daß genannte Fabrik das Instrument in allen seinen Theilen selbst herstellt, d. h. auch die Klaviaturen, Mechaniken etc. selbst anfertigt, so ist dies bei 33 Leuten, die Crasslet & Rähse jetzt beschäftigen, immerhin eine anerkennenswerthe Leistung. Die Firma, die übrigens alle Instrumente mit ihrer von Rähse erfundenen Stimm-Vorrichtung baut, hat in diesem Frühjahre einen kreuzsaitigen Flügel für den Vizekönig von Indien geliefert.“
Offensichtlich wurde die Information über das Stimmen der mit Hammerklavier versehenen Saiten-Orgel notwendig. Man lese mit großer Aufmerksamkeit:
„Der Orgelton der Saiten-Orgel wird erzeugt durch eine mittelst Luftzug in Vibration versetzte Zunge, die der Saite so nahe gebracht ist, daß die Zunge der Saite die Schwingungen mittheilen kann. Es ist Hauptbedingung, daß jede Saiten-Orgel genau nach der Stimmgabel (Wiener Stimmung), die jedem Instrument beigegeben ist, gestimmt wird. Steht ein Instrument tiefer, so schlagen die Töne bei starkem Luftzug über und das Instrument ist unbrauchbar. – Der Quintenzirkel ist in ganz gleichmäßigen Abstufungen zu stimmen, wobei nur die Orgel-Saiten und nicht die Zungen zu stimmen sind. Ist die Orgel gut gestimmt, so stimmt man das Klavier nach der Orgel.
Die Zungen sind durch Stellschrauben regulirbar, d. h. dieselben können der Saite genähert oder entfernt werden. Je näher nun die Zunge zur Saite steht, desto tiefer muß die Zunge im Verhältnis zur Saite gestimmt sein, desto schöner und weicher ist aber auch der Orgelton. – Hat die Zunge nicht die gehörige Tiefe im Verhältnis zur Saite, so schlägt der Ton nach der Höhe über und muß man durch entsprechendes Stimmen der Zunge dafür sorgen, daß dies nicht stattfindet.
Je weiter die Zunge von der Saite entfernt ist, desto lauter und schreiender wird der Orgelton. Hier muß aber auch dementsprechend die Zunge höher gestimmt werden, doch muß die Zunge immer noch tiefer stehen wie die Saite. Im Baß – beim tiefen F – steht die Zunge etwa einen ganzen Ton tiefer als die Saite, beim Kammton A etwa einen halben Ton und im Discant bei C ist es nur noch ein geringes, was die Zuge tiefer steht als die Saite. Diese Zungen-Stimmungen werden absolvirt, nachdem bereits das Lederköpfchen auf die Zunge aufgeleimt ist.
Das Aufleimen eines Lederköpfchens auf die Zunge, im Falle sich eines losgelöst hat, geschieht in folgender Weise: Man schiebt ein Stückchen Blech unter die Zunge, entfernt den alten Leim mit einer scharfen Feile, leimt das Leder mit gutem Kölner Leim auf die Zunge, macht ein Stückchen Blech recht heiß und schiebt, während der Leim noch weich ist, das heiße Blech unter die Zunge. Nun beobachte man bis der Leim anfängt zu verbrennen, man lasse ihn jedoch nicht zu viel verbrennen, denn sonst hält es nicht und muß man daher im geeigneten Augenblick das Blech wegnehmen. Ein derart geleimtes Lederchen hält außerordentlich fest! – Die Zunge entfernt man von ihrem Platze unter den Saiten, indem man letztere mit einem passenden Brettchen auseinander spreizt, die zwei Schäubchen löst und dann die Zunge heraus holt.
Ist die Saiten-Orgel nun fertig gestimmt und sollte dennoch irgend ein Ton beim starken Spiel überschlagen, so ist die betreffende Zunge etwas tiefer zu stimmen, dies geschieht, indem man ein Stückchen Blech unter die Zunge schiebt und mit einem schmalen, scharfen Stechbeutel (Stemmeisen) von der Zunge am festliegenden Ende etwas abschabt.
Streicht eine Zunge die Saite nicht gut an, so daß der Orgelton nicht klar genug erscheint – hauptsächlich beim schwachen Anblasen und Aufhören des Tones – so steht die Zunge zu tief und muß dieselbe daher ein wenig höher gestimmt werden. Dies geschieht, indem man die Zunge losschraubt, eine ganz schwache Feile unter dieselbe schiebt und ganz vorsichtig ein wenig von der freischwebenden Spitze wegfeilt. – Gewöhnlich wird es aber genügen, wenn die Zunge der Saite ein wenige genähert wird und ist es überhaupt die Hauptsache, daß auf den richtigen Abstand der Zunge von der Saite gesehen wird.
Wird die Saiten-Orgel in dieser Weise behandelt, dann ist dieselbe das vollkommenste und großartigste Instrument, was bis jetzt existirt.
Löbau i. S. Crasselt & Rähse.“
1906 – zum 25jährigen Bestehen – „veranstaltete“ die Firma „aus diesem Anlasse für ihr gesamtes Arbeitspersonal eine größere Festlichkeit.“
Nach dem Ersten Weltkrieg, 1919, wurde die Firma in eine GmbH umgewandelt. Geschäftsführer wurde Ferdinand Martin Raehse.
Die handelsgerichtliche Eintragung lautete:
„… Gegenstand des Unternehmens ist die Herstellung und der Vertrieb von Pianinos, Flügeln, Harmoniums und mechanischen Klavieren …“
1930 schied Ferd. M. Raehse aus der Firma aus, im gleichen Jahr löste sich die Gesellschaft auf. Vier Jahre später, so die Eintragung im Handelsregister, war die Liqidation beendet und die Firma erloschen.
Was ist geblieben? Von den Saitenorgeln fehlt offensichtlich jegliche Spur, während Pianos mit der patentierten Stimmschraube im Service „behandelt“ werden müssen.
Klavierbaumeister Olaf Mehlig aus Löbau kennt die „ungewöhnlichen Klaviere“ und gibt darüber Auskunft:
„Es ist doch erstaunlich, welche Ideenvielfalt auch kleine Firmen zur Zeit der letzten Jahrhundertwende im Klavierbau entwickelten und wie diese schließlich Eingang in ihre Serienproduktion fand. Das Problem der Stimmhaltung und des Lockerns der Stimmnägel, wenn das Instrument in die Jahre kommt, mag wohl Anlaß gewesen sein, um auch in diesem Teil des Pianos Fortschritt zu dokumentieren. Über 100 Jahre ist es nun her, dass die Fa. CRASSELT & RÄHSE (C. & R.) die Fachwelt mit ihrer Lösung einer deutlich verbesserten Stimmhaltung – dem Patentstimmstock – zu überzeugen versuchte. Keine Stimmwirbel, sondern Madenschrauben nahmen nun die Funktion zum Stimmen der Saiten ein.
Die Saiten wurden an Stimmplatten befestigt, die mit dem hinteren Teil in eingegossenen Schlitzen der Gussplatte steckten. Die mit Feingewinde versehene Madenschraube wirkt dem beim Spannen entstehenden Saitenzug entgegen. Ein selbständiges Lösen bei jahrelangem Einwirken des Saitenzuges ist somit ausgeschlossen. Eigentlich eine gute Idee! Aber warum hat C. & R. dann trotzdem auch weiterhin Instrumente mit traditionellem Stimmstock gebaut? Und weshalb haben andere Firmen dieses Patent nicht aufgegriffen? Wahrscheinlich zählten nicht wenige aus der großen Schar der Klavierstimmer auch zu jenen, die diese Instrumente nicht befürworteten. Als -Schraubendampfer- wurden sie bezeichnet, und es kam sogar zu Weigerungen, solche Instrumente zu stimmen. Jedes Klavier wurde mit einem eigens hergestellten Stimmschlüssel ausgeliefert. Man findet heute gewöhnlich nur noch das Loch der Schraube, welche der Befestigung an der rechten Innenseite diente.
Der Schlüssel weist auch eine Besonderheit auf: Das Sternloch ist zum Griff hin so angeordnet, daß das Drehen in der Längsachse eine weitere Stellposition ergibt, da bekanntlich beim Stimmen der rechten Saite zum benachbarten Chor hin sehr wenig Platz bleibt. Das Stimmen ist deutlich zeitaufwendiger und bedarf größerer Geduld als sonst notwendig. Die Saiten reagieren schlechter, und man kann das Klavier nicht so rein stimmen wie gewohnt. Auch können schmerzende Finger nach einem zweistündigen Stimmaufwand die Begeisterung für dieses Systems erheblich dämpfen. Was allerdings die Stimmhaltung betrifft, so gibt es wohl keine bessere Lösung. (Welch eine Katastrophe für Klavierstimmer!) Vor Jahren wurde mir ein Piano mit o.g. Patentstimmstock zum Stimmen in Auftrag gegeben, welches noch nie (!) gestimmt worden war, so jedenfalls der Besitzer.
Das auf einer Fußbodenheizung stehende Instrument wies zahlreiche Schwundrisse am Resonanzboden in einer Größe auf, daß man das Mützenschild hätte durchschieben können. Die Mechanikteile klapperten, weil auch dort die Schrauben sich gelöst hatten. Die Tonhöhe jedoch bildete mit 435 Hz eine gute Grundlage für die bevorstehende Arbeit. Auch sonst hätte man meinen können, das Klavier sei vor einigen Jahren gestimmt worden, was der Besitzer jedoch nicht bestätigen konnte.
C. & R. baute auch die Mechanik selbst. Es ist eigentümlich: Wenn man solche Werke betrachtet, denkt man unwillkürlich über Standardlösungen nach. Dass es auch anders geht, zeigte diese Löbauer Klavierfabrik, die im Schatten der deutlich größeren und moderneren Löbauer Fa. AUGUST FÖRSTER stand, schon vor Jahrzehnten: kein Bändchen und Bändchendraht, Hammernuß und Dämpferglied mit einer Kapsel verbunden, Mechanikbalken aus Eisen, keine Schulterblättchenschrauben u.a.m. Ob jedoch tatsächlich alles so vorteilhaft war, sei dahingestellt. Es wird jedem spätestens dann klar, wenn er so ein Spielwerk regulieren muß. Nur ein Instrument dieser Firma ist mir bekannt, welches mit einer RENNER-Mechanik ausgestattet wurde. Der Besitzer erzählte, dies sei das letzte gebaute Instrument von C. & R. gewesen. Eine höhere Seriennummer hatte ich in der Tat noch nicht zu Gesicht bekommen. C. & R. baute Instrumente vermutlich bis zur Nummer 11.000. Das jüngste mir bekannte Instrument besitzt die Seriennummer 10.581. Es existiert aber auch noch das Piano Nr. 146. Sogenannte Saitenorgeln scheinen nicht mehr vorhanden zu sein. Nachfragen bei Technikern im ostsächsischen Raum blieben bislang ohne Ergebnis. Deshalb eine Bitte: Wer kennt solch ein Instrument, oder wer hat damit schon einmal Bekanntschaft machen müssen (bzw. dürfen)? Gibt es hierüber irgendwelche Literatur?“
Normale Unterdämpfer-Pianos hat C. & R. jederzeit auch hergestellt, Oberdämpfer-Pianos aber nur äußerst geringen Zahl.
Weitere Quellen:
1. Hubertus Hlawatsch
2. Klavierbauer Bernhard Haas